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NICHTS. ES WIRD SICH ZEIGEN.

Francisco de Goya

HAMM    Was ist nur los?
CLOV      Irgend etwas geht seinen Gang. (Pause)
HAMM    Clov!
CLOV      (gereizt) Was ist denn?
HAMM    Wir sind doch nicht im Begriff, etwas zu … zu … bedeuten?
CLOV      Bedeuten? Wir, etwas bedeuten? (Kurzes Lachen)
                Das ist aber gut!         
Samuel Beckett, Endspiel

Unsere Augen erblicken nur das, was innerhalb ihres Gesichtswinkels liegt. Uns selbst und das Feld in unserem Rücken können wir nicht sehen. Aber wir können das, was sich außerhalb des Gesichtswinkels befindet, zum Vorschein bringen, wenn wir einen Spiegel aufstellen. Der Spiegel zeigt uns dann »dasjenige«, was jenseits des Gesichtswinkels liegt, als ob es uns vor Augen stünde, ja er zeigt sogar die Augen selbst. Analoges gilt von dem Bewusstsein. Auch das Bewusstsein ist stets in die Perspektive eines bestimmten Gesichtswinkels gebunden. Es bekommt nur zu sehen, was es innerhalb dieses Gesichtswinkels als Gegenstand vor sich hinstellen kann. Die Gegenstände werden dadurch nicht in bloße »Vorstellungen«, also in Bewusstseinsinhalte verwandelt. Das Wort »Vorstellung« bezeichnet vielmehr eine Handlung des Denkens, durch die wir das, was wirklich ist, uns so vor Augen stellen, dass es als reales Objekt erkannt werden kann. Nicht alles, was wirklich ist, können wir uns in dieser Form vor Augen stellen. Nicht alles lässt sich in den Gesichtswinkel unseres objektivierenden Bewusstseins bringen. Erst recht kann aber das All des Wirklichen, innerhalb dessen wir uns selbst befinden, nicht als Gegenstand vor uns aufgebaut werden. Aber dem menschlichen Geist ist die Möglichkeit erschlossen, auch das, was im Rücken des Bewusstseins liegt und deshalb niemals objektiviert werden kann, zum Vorschein zu bringen. Er baut sich Spiegel, auf deren Flächen er Reflexe dessen, was dem Bewusstsein verborgen ist, auffängt. Solche Spiegel sind die Kunstwerke; »das Schöne hat sein Leben in dem Scheine« (Hegel, Ästhetik). Das Verständnis des Kunstwerkes hängt davon ab, dass wir den Schein des reflektierten Bildes nicht mit den realen Objekten verwechseln, die innerhalb unseres  Gesichtswinkels liegen. Das Kunstwerk hat deshalb im Schein sein Wesen.

Georg Picht, Kunst und Mythos
 
 

Die Belagerung von Mainz (1979/80)

Könnte man Lachen unter dem Mikroskop betrachten, so würde man in seinen allgemeinsten Teilchen vielleicht ein Element der Mainzer Fastnacht erkennen. In den verschiedensten Formen erscheint uns dieser Grundstoff des organisierten Frohsinns: als überspringender Funke, der Einverständnis signalisiert, als ansteckender Bazillus, der aller Abwehr zum Trotz zum Mitlachen zwingt, als Reaktion auf die Pointe eines Witzes, deren Widersinn aller Vernunft Hohn sprechen müsste, als Ausbruch aus der Enge von Angst und Depression im hysterischen Lachen, als befreiendes Lachen, das den Druck übermächtiger Tatsachen abstreift und schließlich auch als das scheinbar unmotivierte Lächeln des soeben Verunsicherten. Allen gemeinsam scheint der plötzliche, vom freien Willen und Verstand weitgehend unabhängige Ausweg aus einem Zustand übermächtiger Ordnung und eingeschränktem Handlungsspielraum.
Die Geschichte von Mainz durch ein Fernrohr betrachtet, ließen sich vergleichbare Motive ausmachen. Man kann sich das so vorstellen: keltische Gründung und römische Prägung, Fehlschlag der Bemühungen um Reichsunmittelbarkeit im Mittelalter, konkurrierende Machtbereiche von Hof, Kirche und Universität. Dann die Grenzlage zu Frankreich, der Einfluss der Französischen Revolution, Eroberung und Rückeroberung, dazwischen Mainz als erste Republik auf deutschem Boden. Schließlich hessische Regierung, wechselnde preußische und österreichische Militärherrschaft, Märzrevolution und Nationalversammlung in Frankfurt. Woran sollte man sich orientieren?
Die Mainzer, im Zeitalter demokratischer Ideen eher Nebensache der Geschichte, haben sich ihre eigenen Institutionen geschaffen: den Rosenmontagszug als revolutionäre Demonstration, die Karnevalsitzung als allgemeines Parlament, den Elferrat als Exekutive, die Frage „wolle mer'n reilasse?" als demokratische Abstimmung. Die magische Zahl „Elf" voran, bewegen sie sich so (mit eingezogenem Kopf?) stets einen Deut unter der Decke festgefügter Ordnungen: den zwölf Monaten, den zwölf Stämmen Jakobs, den zwölf Aposteln (unter Zwölfen ist immer ein Verräter!).
Oder wie Leszek Kolakowski in Der Mensch ohne Alternative schreibt: „Die Haltung des Narren besteht in der ständigen Anstrengung des Denkens über die möglichen Gründe der entgegengesetzten Ideen. Sie ist also von Natur aus dialektisch. Sie wird jedoch nicht von der Lust am Widerspruch hervorgerufen, sondern vom Misstrauen gegenüber jeder stabilisierten Welt."
 
 

Glasgow 1980

Im Jahre 1886 begann der Glasgower Fotograf Thomas Annan (1829 – 1887) eine Auftragsarbeit zur Dokumentation von Straßenzügen, Gebäuden und für das damalige Glasgow typischen engen Gassen, die nach dem 1866 erlassenen Glasgow City Improvement Act zum Abriss bestimmt waren. Die im Zuge der Industrialisierung überbevölkerten und von wiederkehrenden Seuchen heimgesuchten innerstädtischen Viertel sollten einer großzügigeren Bebauung Platz machen und die Wohnverhältnisse der in wenigen Jahrzehnten durch Zuwanderer vervielfachten Stadtbevölkerung verbessert werden. Seine Aufnahmeorte sind u.a. mit Bridgegate, Gallowgate, Gorbals, High Street, Saltmarket und Trongate bezeichnet.

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Nach einer ersten Begegnung mit den Aufnahmen Thomas Annans 1978 habe ich 1980 eine Reihe von 30 Aufnahmen an den von Annan bezeichneten Orten angefertigt. Ein Aufsuchen von Annans Aufnahmestandorten war ausgeschlossen, nicht nur, weil sie kaum noch zu finden gewesen wären, sondern vor allem, weil meine Überlegungen dahin gingen, Annans Arbeit im Abstand von über 100 Jahren in einer zeitgemäßen Form nachvollziehen zu wollen: An die Stelle einkopierter Wolken und aufgehellter Wäschestücke tritt der Stil »straighter« Dokumentation, an die Stelle konservierender Abbildung die distanziertere und nicht auftragsgebundene Ansicht architektonischer Ensembles, an die Stelle von Albumin- und Carbon-Prints und Photogravüren der Silbergelatine-Abzug. Gemeinsam ist den Arbeiten von Thomas Annan und meiner Dokumentation Glasgow 1980 ihre jeweilige Entstehung in einer Phase großen wirtschaftlichen und städtebaulichen Umbruchs.

Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der National Library ot Scotland
 
 

Paare, Blicke  (1979–1989)

Die Arbeit folgt der Beschäftigung mit dem menschlichen Blick in der bildenden Kunst und dem durch Blicke angedeutetem Verhältnis der Porträtierten zur Welt, wie etwa in dem spätmittelalterlichen Arnolfini-Doppelbildnis Jan van Eycks (1434) und den Porträtdarstellungen Auguste Renoirs, mit der Frage, wie Paare heute, ohne danach expressis verbis befragt zu werden, dieses in Ihrer Selbstdarstellung zum Ausdruck bringen.
„Beim Betrachten von Eisenhardts Serie „Paare, Blicke 1979–1989" fühlt man sich an Portraits von August Sander erinnert. Dies liegt an der Selbstinszenierung der Dargestellten vor der Kamera, die leicht als unfreiwillige Komik empfunden wird.
Während es Sander um eine soziale Typologie der Weimarer Republik ging – ich will ein Stück Zeitgeschichte schaffen – ist Eisenhardts Anspruch bescheidener. Er kennt meistens seine Modelle nicht, geschweige denn ihre soziale Stellung. Das interessiert ihn auch nur am Rande. Ihm geht es darum, wie Paare in der Öffentlichkeit erscheinen. Die Bilder zeigen Paare in städtischem Ambiente, meistens als Passanten auf der Straße oder im Park – fast alle sind in Frankfurt am Main entstanden. Ihre Akteure stammen hauptsächlich aus den städtischen Mittelschichten jungen und mittleren Alters. Ein Rentnerpaar und ein Arbeiterpaar, vielleicht Spätaussiedler, sind da eher die Ausnahme. Ein türkisches und ein deutsch-persisches Paar fallen nicht auf – sie sind in Ihrer Haltung gut angepasst: Er legt den Arm um sie. Bei den älteren Paaren hat sie sich bei ihm eingehängt. Fast immer dominiert der Mann, indem er der Kamera näher zugewandt ist. Männerdominanz – ein Geschlechtsrollenbefund.
Ein weiterer Befund: die Ähnlichkeit vieler Paare. Durch den Anschnitt von unten sind die Paare bodenlos geworden. Ihr Zustand ist unbestimmt. Liegt das an bei manchen spürbarem Unbehagen vor der Ablichtung? Oder an der zwiespältigen Empfindung des Fotografen gegenüber Paaren? Oder ist Unbestimmtheit das Lebensgefühl des zeitgenössischen Großstädters? Die Bilder geben keine eindeutigen Antworten.“

Richard Grübling   ^

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